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Titel
Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter


Autor(en)
Jucker, Michael
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 38,80
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Würgler, Historisches Institut, Universität Bern

Michael Juckers Buch ist erstaunlicherweise das erste seit Max Kopps juristischer Dissertation aus dem Jahr 1959, das sich ausdrücklich der Tagsatzung widmet, immerhin der wichtigsten Institution der alten Eidgenossenschaft. Mit historischanthropologischem und akteurzentriertem Zugang untersucht Jucker die Herstellung und den Gebrauch von schriftlichen Dokumenten in der mündlichen Kommunikation an den Tagsatzungen des Spätmittelalters 1350–1520 (Kapitel 2 und 4). Der Ausgangspunkt ist eine grundsätzliche Kritik an der «Amtlichen Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede» (EA), die von 1856–1888 ediert wurde, und an der Forschung, die sich bisher allzu leichtfertig auf die EA gestützt habe (Kapitel 3).

Das interessanteste Ergebnis dieser Zürcher historischen Dissertation dürfte sein, dass die Tagsatzungen erst in den 1470er-Jahren anfi ngen, selber regelmässig Abschiede zu produzieren, und die Orte – darunter auch Bern – dazu übergingen, diese Abschiede auch aufzubewahren. Was die EA aus der Zeit von 1291 bis 1450 als Abschiede ausgeben, sind meist bloss Urkunden, Verträge oder Notizen in Ratsprotokollen, die auf abgehaltene Sitzungen hinweisen, aber keine eigentlichen Abschiede. Gemäss Jucker waren die separaten, auf losen Zetteln festgehaltenen Pendenzenprotokolle die ersten von der Tagsatzung selber produzierten Akten. Diese seien, wohl in Anlehnung an die Vorbilder im Reich, zeitgenössisch erstmals als «Abschiede» bezeichnet worden. Die neue Quellenform findet sich zuerst in Luzern, wo die meisten Tagsatzungen vor der Reformation stattgefunden haben (Kapitel 5).

Die deutliche Zunahme der Abschiede und der Verweise auf Abschiede in den
1470er-Jahren erklärt Jucker mit der abnehmenden Bereitschaft der Orte, Konflikte zu lösen. Die Geschäfte seien nun häufig verschoben worden, was sowohl die Zahl der Tagsatzungen als auch die Zahl der Abschiede (und Traktanden) habe anschwellen lassen. Zudem habe sich die Tagsatzung nach Ansätzen in den 1450er-Jahren nun endgültig zum internationalen Kommunikationsforum entwickelt, was im Zeitalter der Burgunderkriege ebenfalls die Tagungshäufi gkeit und die Schriftproduktion stimuliert und die Rolle der Schreiber – in Bern insbesondere Thüring Frickers – gestärkt habe. Bern scheint auch als erster Ort seit etwa 1480 die Abschiede in eigens angelegte Bände für die Benutzung durch den Schultheissen kopiert zu haben, während die Originale dem Rat zur Verfügung standen, bevor sie später in den «Unnützen Papieren» landeten (S. 185f.).

Der deutliche Verschriftlichungsschub in der Eidgenossenschaft lässt sich auch in den Gemeinen Herrschaften nachweisen. Erst jetzt haben die Eidgenossen ihre Herrschaftsrechte in Urbaren verzeichnet: 1475 im schon 1460 eroberten Thurgau, dann 1484/87 im bereits 1415 eroberten Baden (Kapitel 7).

Juckers Ergebnisse stellen die Beschäftigung mit der spätmittelalterlichen Tagsatzung auf eine neue Basis. Der Autor kritisiert zu Recht, dass die Historiker das Bild der Abschiede produzierenden Tagsatzung, wie es Josias Simler 1576 für seine Gegenwart zeichnete, zurückprojizierten bis zum magischen Datum von 1291, um so eine scheinbar kontinuierliche «staatliche» Tätigkeit der Tagsatzung belegen zu können. Allerdings entgeht Jucker in seinem verbissenen Kampf gegen diesen nationalgeschichtlichen Mythos aus dem 19. Jahrhundert, dass er wohl der letzte Vertreter der Geschichtswissenschaft ist, der diesen Mythos noch pflegt – und sei es nur, um ihn gleich wieder zerstören zu können. Die alten Bilder von der demokratischen Schweiz und der egalitären und parlamentarischen Tagsatzung kommen entgegen seinen Behauptungen in der von ihm zitierten neueren wissenschaftlichen Literatur gar nicht mehr vor (S. 72). Der bekämpfte Mythos entpuppt sich als Juckers Projektion.

Andere Thesen Juckers werden Anlass zu Diskussionen geben. So etwa seine
Auffassung, dass die Tagsatzungsgesandten unbesehen ihrer Instruktionen über weit gehende Handlungsfreiheit verfügt hätten, was den Spielraum des Einzelnen wohl selbst für das Spätmittelalter überbewertet. Insgesamt aber eröffnet die überfällige Kritik an den EA, die sich allerdings nur auf die von Anton Philipp Segesser edierten Bände zu den Jahren 1250–1520 bezieht und sich nur bedingt auf die Bände anderer Herausgeber für die Zeit von 1521–1798 übertragen lässt, einen neuen Zugang zu den Anfängen der Tagsatzung und auch zu den Kommunikationsformen der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft. Dazu trägt auch das anregende Kapitel 6 über die Korrespondenzen zwischen den Orten wesentlich bei, das sich stark auf die Bestände des Berner Staatsarchives stützt. So scheint der Umfang der überlieferten Korrespondenzen massgeblich vom amtierenden Ratsschreiber abhängig zu sein (S. 203), und viele Briefe dürften wohl auch für die Zeitgenossen nur mit Hilfe mündlicher Erläuterungen des Briefboten zu verstehen gewesen sein, was unter anderem ein Schutz gegen unbefugtes Lesen war (S. 222). Solche Ergebnisse vermögen mehr zu überzeugen als der trendig wirkende Exkurs zur Bedeutung von Rang und Körper in der Diplomatie (Kapitel 8).

Zitierweise:
Andreas Würgler: Rezension zu: Jucker, Michael: Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter, Zürich, Chronos, 2004, 367 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 4, Bern 2005, S. 81f.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 4, Bern 2005, S. 81f.

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